Archivierte Tiere
Eine virtuelle Ausstellung zum 20-jährigen Jubiläum des Westfälischen Literaturarchivs im September 2021
Lange Zeit wurden die Tiere, die Literatur, Kunst und Kultur bevölkern, nur als Gegenstände menschlichen Handelns oder als Zeichen für etwas Anderes gelesen: als Metaphern, Symbole, Allegorien menschlicher Regungen – wenn sie überhaupt beachtet wurden. Seit einigen Jahren richten die kulturwissenschaftlichen Animal Studies die Aufmerksamkeit gezielt auf die Tiere und entwickeln methodische Instrumente, um sie auf neue Weise zu erforschen. "Die Tiere sind überall, und doch bedarf es einer eigenen Anstrengung, auf diese Allgegenwart angemessen zu reagieren", stellt Roland Borgards im Vorwort seines kulturwissenschaftlichen Handbuchs Tiere fest (Borgards 2016, S. VII).
Viele literarische Tiere stehen in einer reichhaltigen kulturgeschichtlichen Überlieferung, die oft bis in die Antike zurückreicht. Doch unsere Ausstellung zeigt: Text-Tiere können Fragen aufwerfen, die über diese Traditionen und die mit ihnen verknüpften Bedeutungen weit hinausgehen. Dies können ethische und ökologische Fragen sein wie die, woran es eigentlich liegt, dass der von Annette von Droste-Hülshoff besungene Lerchengesang heute kaum noch in der Luft zu hören ist – und was menschliches Verhalten damit zu tun hat. Es können Fragen nach dem Wissen sein, das mit Tieren verknüpft ist, wie die ornithologischen Erkenntnisse über die Flugleistungen der Mauersegler, die Ulrich Horstmanns Werk durchziehen. Literarische Tiere können auf die Medien aufmerksam machen, die zu ihrer Entstehung beigetragen haben. So verweisen die Federn in Droste-Hülshoffs zahlreichen Vogelgedichten auf die kunstfertig geschnittenen Federkiele, mit denen sie geschrieben wurden. Text-Tiere können Fragen nach dem Sein verhandeln, wie der Fisch, mit dem Ernst Meister das christliche Heilsversprechen befragt. Und sie können dazu anregen, über Sprache und Dichtung nachzudenken. So lotet ein Delphin, der griechische Mythen erzählt, zugleich die Möglichkeiten aus, antike Mythen in der Moderne anschaulich zu machen – ein Anliegen von Katherine Allfreys Roman Delphinensommer.
Diese Ausstellung zielt darauf ab, durch das Thema Tiere auch komplexe Texte wie die Lyrik Ernst Meisters zu erschließen und aus der aktuellen Forschungsperspektive der Animal Studies auf verständliche Weise zu beleuchten. Indem sie den Blick auf die Verhältnisse von Menschen und Tieren und die damit verknüpften ethischen Fragen lenkt, leistet sie einen Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige Entwicklung und damit zu den Bildungszielen der UNESCO-Agenda 2030. Die Ausstellung lässt die Materialität der Archivalien hervortreten und macht so die Bedeutung archivierter Text- und Bildträger zum Ziel kultureller Nachhaltigkeit sichtbar.
Die virtuelle Ausstellung Archivierte Tiere ist ein gemeinsames Projekt der LWL-Literaturkommission und des LWL-Archivamts für Westfalen. Sie stellt drei wichtige Sammlungsgebiete des Westfälischen Literaturarchivs vor: Annette von Droste-Hülshoff und ihr Umkreis; Kinder- und Jugendbuch; Literatur nach 1945. Das Westfälische Literaturarchiv im LWL-Archivamt für Westfalen wurde im September 2001 mit der Übernahme des Nachlasses von Ernst Meister als Kooperationsprojekt des LWL-Archivamts für Westfalen und der LWL-Literaturkommission für Westfalen gegründet. Mittlerweile enthält es über 60 literarische Vor- und Nachlässe, die nach und nach erschlossen und durch digitale Findbücher zugänglich gemacht werden. Im Jahr 2018 übernahm das Westfälische Literaturarchiv den Meersburger Nachlass Annette von Droste-Hülshoffs, der den Großteil ihrer Werke und Briefe umfasst. Derzeit wird dieser Nachlass digitalisiert; Ende 2021 wird er für die Öffentlichkeit verfügbar sein.
Den Tieren, die in einem Archiv am meisten gefürchtet werden, sind wir zum Glück nicht begegnet: den Papierfischchen, die darauf aus sind, sich die kostbaren Archivalien einzuverleiben. Sie werden durch die Bestandserhaltungsmaßnahmen des LWL-Archivamts erfolgreich in Schach gehalten.
Literatur
Borgards, Roland: Tiere. Kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016.