Delphinensommer (1963)
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Können Delphine sprechen? Und mögen sie Weintrauben? Dieser hier schon, wie das Mädchen Andrula in Katherine Allfreys Kinderroman Delphinensommer feststellt. Sie wirft ihm ihre Trauben zu; er trägt sie auf seinem Rücken über das Meer.
Wie leicht, wie frei dieses Dahingleiten in Kühle und Stille war! Viel, viel schöner, als in einem Boot zu fahren. […]
Es war wie schweben, es war wie fliegen – ja, sie war Fisch und Vogel zugleich.
(Delphinensommer, S. 60)
Bild links: Katherine Allfrey: Delphinensommer. Eine Insel-Legende. Berlin 1963. Coverbild gestaltet von Ingrid Schneider.
Bild ganz oben: Ingrid Schneider: Illustration zu Delphinensommer (Coverbild). Privatbesitz.
Die Welt der Antike - Tiere, Menschen und Götter
"Wie schön. Was für eine wunderschöne Geschichte! Weißt du noch eine?"
"Viele", antwortete der Delphin. "Aber es ist besser, sie zu erleben, als sie nur anzuhören. Willst du meine nächste Geschichte erleben?"
(Delphinensommer, S. 49)
Auf seinem Rücken trägt der Delphin Andrula zu der verwunschenen Insel Hyria. Einen Sommer lang erlebt sie dort den Zauber der griechischen Antike. Sie tanzt mit bocksbeinigen Panskindern, reitet auf einem Kentauren über die Insel, lernt von ihrem Delphinfreund schwimmen und begegnet der Quellnymphe Kallisto.
Auf Hyria sind die Grenzen zwischen Tieren, Menschen und Göttern fließend, und Andrula kann mit den Wesen der Natur in eine responsive Beziehung treten – welch ein Gegensatz zu ihrer kargen, streng geregelten Welt zuhause!
Doch dann fängt die Schule wieder an, und eine dunkle Gestalt – ist es die christliche Muttergottes? – ruft sie zurück in ihr altes, einsames und armes Leben, das allerdings bald eine glückliche Wendung nimmt.
Halb Mensch, halb Ziegenböckchen: Die Kinder des Pan
Andrula entdeckt auf Hyria vier Wesen, die oben aussehen wie Jungen – unten aber wie Ziegenböckchen!
Es sind die Söhne des Pan, des antiken Hirtengottes. Andrula freundet sich mit ihnen an und bringt ihnen das Tanzen bei. Hier kann sie ihre Rolle als Vortänzerin wieder einnehmen, die ihr zuhause von missgünstigen Kameradinnen geonmmen worden war.
Auf Ingrid Schneiders Illustration ist zu deutlich sehen, wie ausgelassen und befreit Andrula mit dem Pansjungen tanzt und wie freundlich er sich ihr zuwendet.
Bild oben: Ingrid Schneider: Illustration, in: Katherine Allfrey: Delphinensommer. Berlin 1963, S. 99.
"Aha", rief Melas, "ich weiß, was er sagen will. Er meint, Andrula hat gut reden, denn sie hat Füße, und damit kann man besser tanzen als mit Hufen."
Battos nickte zufrieden, daß er verstanden war. Die anderen drei nickten auch, denn Battos hatte iher eigene Meinung ausgedrückt. Aber Andrula wollte davon nichts hören.
"Unsinn", rief sie, "Hufe oder Füße – das ist doch gehüpft wie gesprungen! Am Takt liegt es, und daß man die Schritte richtig kann, und natürlich am Vortänzer. Wartet, ich zeige es euch..." Damit lief sie den Hügel hinauf, wo sie ihr Kopftuch liegelassen hatte. Gleich kam sie wieder zurück und hielt Melas einen Zipfel hin. [...]
"Wozu denn dieses Tuch?" beharrte Melas.
"Weil ich mich damit besser drehen und wenden kann", erklärte Andrula, und nun griff er zu. Sie wand sich blitzschnell unter seinem erhobenen Arm hindurch, ging in die Hocke, war im nächsten Augenblick wieder aufgesprungen und drehte sich anmutig noch einmal. "Siehst du?" fragte sie.
(Delphinensommer, S. 101 f.)
Halb Mensch, halb Pferd: Der Kentaur
Als Andrula eines Tages über die Insel spaziert, erschrickt sie sehr:
Und in der Sonne lag ... in der Sonne lag, ihr gerade gegenüber ...
Andrula hätte beinahe laut aufgeschrien. Ein Ungeheuer, halb Mann, halb Pferd! Sie stand stockstill und wagte kaum zu atmen.
(Delphinensommer, S. 134)
Bild oben: Ingrid Schneider: Illustration, in: Katherine Allfrey: Delphinensommer. Berlin 1963, S. 140.
Zum Glück ist der Pferdemann, der Kentaur, ebenso freundlich wie die übrigen Wesen auf Hyria. Wie sehr Andrula die Freiheit genießt, wenn sie auf seinem Rücken über die Insel galoppiert, zeigt Ingrid Schneiders Ilustration.
Da lachte er laut und ergriff sie, schwang sie hinter sich auf seinen starken Rücken und sprengte mit ihr davon, über die sonnigen Hänge, durch den schattigen Wald. seine vier Hufe donnerten, und während er galoppierte, stieß er helle, triumphierende Rufe aus.
(Delphinensommer, S. 139)
Überraschung per Telegramm
Delphinensommer wurde mit dem Deutschen Jugendbuchpreis 1964 ausgezeichnet. Für Katherine Allfrey, 1910 im westfälischen Verl geboren, bedeutete diese Ehrung ihren literarischen Durchbruch. Durch ein Telegramm ihrer Berliner Lektorin erfuhr sie auf ihrem ländlichen englischen Wohnsitz von der großen Wendung in ihrem Leben.
Bild unten: Telegramm des Dressler Verlags, 1964. Privatbesitz.
An der Entscheidung der Jury hatten die positiven Rezensionen zu Delphinensommer sicherlich einen Anteil. Eine Besprechung der Journalistin und Kinderbuchautorin Sibyl Gräfin Schönfeldt in der ZEIT vom 29. November 1963 prophezeit:
"Es ist eins der Kinderbücher, das durch seine Vielschichtigkeit jedem Anspruch gerecht werden kann – und deshalb vermutlich ein langes Leben haben wird."
Bild unten: Rezension zu Delphinensommer, ZEIT vom 29.11.1963. Privatbesitz.