Zerstreuung eines Fisches
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Der Hagener Dichter Ernst Meister (1911–1979) beleuchtet in seinem Werk die Grundfragen der menschlichen Existenz und stellt die Frage nach den Grenzen des Menschlichen. Immer wieder bezieht er sich dabei auf Tiere. "Zerstreuung eines Fisches" erschien im Gedichtband Dem Spiegelkabinett gegenüber (1954); später nahm Meister das Gedicht in mehrere Auswahlbände auf.
Auf diesem Typoskript ist vermerkt: "ca. 1938 entstanden". Doch wahrscheinlich entstand das Gedicht bereits 1935. Nachdem Meisters Doktorvater an der Universität Marburg, Karl Löwith, 1934 wegen der nationalsozialistischen Judenverfolgung emigrieren musste, war Meister nach Frankfurt gezogen, um dort die Arbeit an seiner Dissertation über Wasser und Schiffe bei Nietzsche fortsetzen.
Bild: Typoskript zu Meisters Gedichtband Dem Spiegelkabinett gegenüber. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.2-DSgM11.2]; © Reinhard Meister
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Auf diesem Typoskript ist auch die fünfte Strophe des Gedichts vorhanden, die Meister in der Version des Bandes Dem Spiegelkabinett gegenüber und in allen weiteren Veröffentlichungen des Gedichts wegließ. In der vierten Zeile ist "vor Geblüt" handschriftlich in "von Geblüt" korrigiert. In der gedruckten Version heißt es jedoch "vor Geblüt".
Auf diesem Typoskript vermerkt Ernst Meisters Freundin Irena Demtröder 1938 als ungefähres Entstehungsdatum. "Spiegelkabinett" verweist auf den Titel des Gedichtbands, in dem das Gedicht erschien.
Die vierte Strophe endet brutal. Selbst die Reste des Fisches zerfallen und werden zum Abfall, der jeder Individualität beraubt ist und entsorgt wird: Nichts bleibt von dem, der ein Du war.
Dagegen setzt die fünfte Strophe die Erinnerung an eine Zeit des Lebens, der Ganzheit und des Getragenseins von der Umgebung. Die letzte Zeile lässt mit der Evokation von Licht und Blau die Assoziation der Ewigkeit aufscheinen.
Dass Meister diese harmonisierende Strophe des Gedichts in allen Versionen ab 1954 wegließ, ist bezeichnend für seine weitere dichterische Entwicklung.
Bild: Typoskript zu Meisters Gedichtband Dem Spiegelkabinett gegenüber. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.2-DSgM11.3]; © Reinhard Meister
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Der Fisch in diesem Gedicht zeugt auch von Meisters intensiver Auseinandersetzung mit der Bibel. Das griechische Wort für Fisch, Ichthys, ist seit frühchristlicher Zeit eine Bezeichnung für Christus. Meisters Gedicht ruft die biblischen Konnotationen des Abendmahls und der Fische auf, die Jesus im Johannesevangelium seinen Jüngern zum Mahl reicht (Jh 21:9.13). Allerdings verweist Meisters Fisch zwar auf die christliche Symbolik von Leben und Ewigkeit, negiert sie jedoch auf radikale Weise: Er wird zerschnitten, zerschlitzt und gegessen, wird zum zerfallenden, rein materiellen Rest, von dem nichts bleibt. Dies stiftet keine Hoffnung für die "andern Seelen", die der Essenden, denen der servierte Fisch eben noch wie in einer Schicksalsgemeinschaft zugeblinzelt hat.
Meister studierte auf Wunsch seines Vaters zunächst Theologie, wechselte jedoch bald zum Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte.
Bild: Typoskript zu Meisters Privatdruck Gehn und Sehn in der Mütter Geheiß. Mitteilung für Freunde. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000/[I.2-MfFM10.26]; © Reinhard Meister
Fische und Chaos
Von seinen frühen Gedichten an befasst Ernst Meister sich mit Phänomenen der Auflösung, der Zerstreuung und des Verlusts von Ordnung und Ganzheit. Dabei bezieht er sich mehrfach auf Fische.
Er schreibt über seinen ersten Gedichtband Ausstellung (1932):
Ungeachtet so beschaffener Weltangst, der ich Solides hätte entgegensetzen sollen, ließ ich, vielleicht schon angesteckt von Rimbaud, 'den Menschen' einen anderen werden, machte ihn zum 'homme machine bleue', setzte seine gewachsene Kausalität außer Kraft... ja, schritt gelassen zur Auflösung der Kreatur, entband die Teile vom Ganzen und objektivierte sie, wie es mir beliebte... In der Malerei war das ja schließlich auch schon geschehen. Mit entsprechender Einsicht nannte ein Kritiker der 'Vossischen Zeitung' meine Produktion 'Kandinsky-Lyrik'. (Meister [1971] 1989, S. 20)
Der Band Ausstellung enthält auch Meisters Gedichte "Der Fischzug" und "Toter Dichter auf dem Meeresgrund"; 1935 erscheint im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung das Prosastück "Das Fischbassin".
Ernst Meister, der 1911 in Haspe bei Hagen als Sohn eines Fabrikanten geboren wurde und dort 1979 starb, war nicht nur Dichter, sondern auch Maler. Sein bildnerisches Werk ist bis auf wenige Ausnahmen abstrakt und ohne Titel. Ein Aquarell von 1955 lässt jedoch Assoziationen zu Fischen zu, die im Wasser schwimmen.
Bild unten: Ernst Meister, Ohne Titel, 1955. Aquarell, Deckweiß, Tusche/Papier, 20,9 x 27,5 cm. Inv.Nr. KdZ 6455 LG. Dauerleihgabe der Nordrhein-Westfalen-Stiftung Naturschutz, Heimat- und Kulturpflege. Foto: LWL-Museum für Kunst und Kultur, Westfälisches Landesmuseum, Münster. © Reinhard Meister.
Entstehungszusammenhang
Meisters Gedicht "Die Zerstreuung eines Fisches" entsteht im Kontext der Arbeit an seiner Dissertation, die er in den frühen 1930er Jahren bei Karl Löwith beginnt und nach dessen Rückkehr aus dem Exil ab 1950 fortsetzt. Sein Thema umreißt Ernst Meister so:
Wasser, Schiff, Ufer, – ein symbolischer Zusammenhang in der Dichtung […] Aber warum sollte ich nur von Schiff und Wasser sprechen, während da doch ein Parallelismus ist: Schwimmender Vogel (auch gleich Einzelseele) und Wasser – oder auch: Reiter – Pferd – Erde ... Wagen (Rad) und Erde […], aber auch Vogel-Luftmeer. Überall ein Tragendes und Getragenes, ein Allgemeines und ein Einzelnes. (Brief Ernst Meisters an seinen Doktorvater Karl Löwith am 08.10.1950; Ernst Meister Jahrbuch 1996, S. 20)
Meister schildert seinen Zustand zur Entstehungszeit seines Gedichts:
Mag nun 'das Leere unerschöpflicher sein als das Volle' (Jean Paul), ich war wie die Weimarer Verfassung faktisch zu nichts geworden in Gestalt dessen, was der Arzt eine Erschöpfung nennt. Das Letzte war ein Gedicht wie 'Zerstreuung eines Fisches' und vier Prosabeiträge für das Feuilleton der 'Frankfurter Zeitung'. (Meister [1971] 1989, S. 20 f.)
Während der Zeit des Nationalsozialismus schreibt Meister weiterhin Gedichte, publiziert jedoch kaum. Erst 1946 und 1947 erscheinen seine Gedichte aus dieser Zeit, unter anderem "Zerstreuung eines Fisches", in sechs Privatdrucken, den Mitteilungen für Freunde.
Fische haben in der Lyrik um 1950 Konjunktur. Walter Höllerers Anthologie Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte (Frankfurt a. M. 1956) druckt "Zerstreuung eines Fisches" zusammen mit Meisters Gedicht "Der Fischzug" und weiteren Fisch-Gedichten in der Gruppe "Republik der Fische". Höllerer bemerkt dazu: "Das Gewohnte erscheint in fremder Sicht; durch die Masken von Fischgesichtern gesehen, verändern die Städte ihr Antlitz; verkehren die Alltage ihren Sinn." (Höllerer 1956, S. 222)
Bild unten: Ernst Meister am Schreibtisch, 1968. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000; © Reinhard Meister
Ernst Meister nimmt "Zerstreuung eines Fisches" in seinen Gedichtband Dem Spiegelkabinett gegenüber auf, der 1954 erscheint. Der Germanist Clemens Heselhaus rezensiert diesen Band sehr positiv und engagiert sich als Mitglied der Jury des Annette-von-Droste-Hülshoff-Preises 1957 für Meister. Dieser Preis ist entscheidend für Ernst Meisters Etablierung als Schriftsteller. Meister veröffentlicht über 20 Gedichtbände, außerdem Prosawerke, Theaterstücke und Hörspiele, und erhält zahlreiche bedeutende Preise, etwa den Literaturpreis der Stadt Hagen (1962), den Großen Kunstpreis des Landes Nordrhein-Westfalen (1963), den Petrarca-Preis (1976, zusammen mit Sarah Kirsch), den Rainer-Maria-Rilke-Preis für Lyrik (1977) und den Georg-Büchner-Preis (1979).
Bild unten: Verleihungsurkunde des Annette-von-Droste-Hülshoff-Preises 1957 an Ernst Meister. Depositum Ernst Meister, Westfälisches Literaturarchiv Im LWL-Archivamt (WLA), Best. 1000_III.1-M07.08_001 © Reinhard Meister
Literatur
Ernst Meister Gesellschaft. Jahrbuch 4 (1996). Hg. im Auftrag der Ernst Meister Gesellschaft von Dieter Breuer u. Reinhard Kiefer.
Heselhaus, Clemens: Deutsche Lyrik der Moderne von Nietzsche bis Yvan Goll. Die Rückkehr zur Bildlichkeit der Sprache. 2., durchges. Aufl. Düsseldorf: Bagel 1962.
Höllerer, Walter (Hg.): Transit. Lyrikbuch der Jahrhundertmitte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1956.
Israel, Walter: Ernst Meister. Dichter und Maler. Vortrag zum 20. Todestag am 14. Mai 1999 anläßlich einer Ausstellung seiner Bilder in der Johannisloge Hagen, in: Ernst Meister Gesellschaft Jahrbuch 7 (1999), S. 27-47.
Johannimloh, Norbert: „Wandloses Gefäß“. Zur Versform der Gedichte von Ernst Meister, in: Ernst Meister. Hommage. Überlegungen zum Werk. Texte aus dem Nachlaß. Hg. von Helmut Arntzen und Jürgen P. Wallmann, Münster 1985, S. 101-110.
Kiefer, Reinhard: Schädelstätte! Todesbaum! Anmerkungen zur Bibelrezeption Ernst Meisters, in: Text+Kritik 96 (1987), S. 65-74.
Kiefer, Reinhard: Text ohne Wörter. Die negative Theologie im lyrischen Werk Ernst Meisters. Aachen: Rimbaud 1992.
Laschen, Gregor: „Meister, Ernst“, in: Munzinger Online/KLG - Kritisches Lexikon zur deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, URL: http://www.munzinger.de/document/16000000392 (abgerufen von Universitätsbibliothek Siegen am 27.7.2021)
Meister, Ernst [1971] 1989: Fragment, in: XXX.
Meister, Ernst: Dem Spiegelkabinett gegenüber. Stierstadt im Taunus: Eremiten Presse 1954.
Meister, Ernst: Gedichte. Textkritische und kommentierte Ausgabe. 6 Bde. Hg. von Axel Gellhaus, Stephanie Jordans und Andreas Lohr. Göttingen: Wallstein 2011.
Meister, Ernst: Mitteilung für Freunde (1-6). Gedichte [1946/47]. Hg. von Reinhard Kiefer. Aachen: Rimbaud 2000.