Kom liebes Hähnchen
Kom Liebes Hähnchen kom heran
Und friß aus meinen Händen.
Nun kom du Lieber kleiner Mann
Das sie’s dir nicht entwenden.
(HKA II, 1, S. 90)
Bild oben: Therese von Droste-Hülshoff: Handschrift. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA X 12, 1.
Therese von Droste-Hülshoff schrieb "Kom Liebes Hähnchen" zusammen mit einigen anderen Gedichten ihrer kleinen Tochter ab und verwahrte es sorgfältig. Auf diesem Manuskriptblatt notierte sie nach dem Hähnchen-Gedicht zwei weitere Gedichte Annette von Droste-Hülshoffs aus dem Jahr 1804, die sie jeweils mit Querstrichen voneinander abtrennte.
Wechselbeziehungen zwischen Tieren und Menschen
Drostes Gedicht spricht das Hähnchen direkt an: "Kom Liebes Hähnchen, kom heran / Und friß aus meinen Händen!" Das Tier wird dadurch zum Gegenüber für das menschliche Ich: zu einem Du, das sich mit dem Ich auf der gleichen Ebene befindet. Wenn das Hähnchen sogar als "Lieber kleiner Mann" adressiert wird, gewinnt es geradezu menschliche Dimension. Hier ist nichts von einer Haltung zu spüren, die den Menschen als Krone der Schöpfung und das Tier als untergeordnetes, geist- und seelenloses Wesen begreift.
Drostes Zeichnung einer Hühnerfamilie zeugt von ihrem genauen Blick auf das Miteinander der Tiere.
Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Zeichnung (Hühnerfamilie). Aus: Karl Schulte-Kemminghausen: Am Zwinger zeichnet die Mylady. Annette als Zeichnerin. Münster 1953, S. 12.
Drostes spätere Dichtung zeichnet sich dadurch aus, dass sie in einer für ihre Zeit bahnbrechenden Weise die Grenzen zwischen Menschen und Tieren immer wieder in Frage stellt und sich dabei auch auf aktuelles naturwissenschaftliches Wissen ihrer Zeit bezieht. Ein Grundzug ihrer Dichtung ist die Wahrnehmung von Tieren als fühlenden Lebewesen, die Glück und Leid spüren und mit den übrigen Tieren in ihrer Umgebung, einschließlich der Menschen, in komplexen Wechselbeziehungen stehen (mehr dazu vgl. Detering 2020).
Viele Jahre später, im Jahr 1844, schreibt Droste erneut von dem Glück, einen kleinen Vogel aus der Hand zu füttern. Sie ist zu Besuch bei ihrer Schwester Jenny auf der Meersburg am Bodensee. In ihrem Zimmer im Turm ist sie nicht allein. Ein gefiederter Mitbewohner sorgt für Wohlbefinden:
Mein Thurm ist köstlich, d.h. meinem Geschmacke nach – einsam, graulich, – […] und nun drinnen mein lieber warmer Ofen, – mein guter großer Tisch mit Allem darauf was mein Herz verlangt, Bücher, Schreibereyen, Mineralien – und als Hospitant mein klein Kanarienvögelchen, das mir aus der Hand frißt und die Federn verschleppt. – o es ist ein prächtiges Ding, der runde Thurm! Ich sitze darin wie ein Vogel im Ey, und mit viel weniger Lust heraus zu kommen[.]
(Annette von Droste-Hülshoff: Brief an Louise Schücking vom 4. März 1844, HKA X, 1, S. 167 f.)
Dass Annette von Droste-Hülshoff Nähe zu diesem Vogel empfindet und ihn zum Anlass nimmt, über ihr eigenes Dasein als Dichterin nachzudenken, legt eine Zeichnung nahe, auf der sie sich selbst und den Vogel in ihrem Meersburger Turmzimmer darstellt. Sie stellt eine Analogie zwischen der Dichterin und dem Käfigvogel her (vgl. Detering 2020, S. 29). Droste beklagt in ihrem berühmten Gedicht "Am Thurme" (1842) die Einschränkungen, denen eine Frau durch die geltende soziale Ordnung ausgesetzt ist. Hier zeichnet Droste sich selbst in ihrem Turmzimmer mit dem im Käfig gefangenen Vogel. "Der Blick, den sie auf ihn richtet, gilt einem Spiegelbild in Tiergestalt." (Detering 2020, S. 29)
Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Zeichnung (Selbstportrait mit Vogelkäfig). Aus: Heinrich Detering: Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Göttingen 2020, S. 31.
Literatur
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hg. von Winfried Woesler. Bd. I–XIV (28 Teilbände) (= HKA). Tübingen 1978–2000.
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. II, 1: Gedichte aus dem Nachlaß. Text. Bearbeitet von Bernd Kortländer (= HKA II, 1). Tübingen 1994.
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. II, 2: Gedichte aus dem Nachlaß. Dokumentation. Bearbeitet von Bernd Kortländer (= HKA II, 2). Tübingen 1998.
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. X, 1: Briefe 1843–1848. Text. Bearbeitet von Winfried Woesler (= HKA X, 1). Tübingen 1992.
Blasberg, Cornelia u. Jochen Grywatsch: "Nicht zur Publikation vorgesehene Gedichte bis 1838. Einleitung". In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin u. Boston 2018, S. 99–102.
Borgards, Roland (Hg.): Tiere. Ein kulturwissenschaftliches Handbuch. Stuttgart 2016.
Detering, Heinrich: Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Göttingen 2020.
Eichhorn, Kristin u. Lothar van Laak: "Das erste Gedicht". In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin u. Boston 2018, S. 440 f.
Hub, Ignaz: "Annette Elisabeth Freiin von Droste-Hülshof". In: ders.: Deutschland's Balladen- und Romanzen-Dichter. Von G.A. Bürger bis auf die neueste Zeit. Karlsruhe 1846, S. 528–533.
Lieb, Claudia: Virtuelle Austellung. Aus der Feder, mit der Feder. Collagen, Zeichnungen und Gedichte von Annette von Droste-Hülshoff.
Wernli, Martina: Federn lesen. Eine Literaturgeschichte des Gänsekiels von den Anfängen bis ins 19. Jahrhundert. Göttingen 2021.
Woesler, Winfried: "Kindheit und Jugend der Dichterin Annette von Droste-Hülshoff". In: Droste-Jahrbuch 4 (1997–1998), S. 165–186.