Die todte Lerche
Ich stand an deines Landes Grenzen,
An deinem grünen Saatenwald,
Und auf des ersten Strahles Glänzen
Ist dein Gesang herabgewallt;
Der Sonne schwirrtest du entgegen,
Wie eine Mücke nach dem Licht,
Dein Lied war wie ein Blüthenregen,
Dein Flügelschlag wie ein Gedicht.
Da war es mir, als müsse ringen
Ich selber nach dem jungen Tag,
Als horch' ich meinem eignen Singen,
Und meinem eignen Flügelschlag;
Die Sonne sprühte glühe Funken,
In Flammen brannte mein Gesicht,
Ich selber taumelte wie trunken,
Wie eine Mücke nach dem Licht!
Da plötzlich sank und sank es nieder,
Gleich todter Kohle in die Saat;
Noch zucken sah ich kleine Glieder,
Und bin erschrocken dann genaht.
Dein letztes Lied, es war verklungen,
Du lagst ein armer, kalter Rest,
Am Strahl verflattert und versungen,
Bei deinem halbgebauten Nest.
Ich möchte Thränen um dich weinen
Wie sie das Weh vom Herzen drängt;
Denn auch mein Leben wird verscheinen,
Ich fühl's, versungen und versengt.
Dann du mein Leib, ihr armen Reste,
Dann nur ein Grab auf grüner Flur
Und nah nur, nah bei meinem Neste,
In meiner stillen Heimath nur!
glühe] glüh: glühend, glänzend.
verflattert] verflattern: "unter flatternder bewegung sich verzehren, von verbrennendem holze u. ähnl." (Grimm, Deutsches Wörterbuch).
versungen] versingen: "zu singen aufhören" (Grimm, Deutsches Wörterbuch).
verscheinen] vergehen.
Dieser Text basiert auf dem Erstdruck des Gedichts in Cottas Morgenblatt für gebildete Leser 1844.
Quelle: Online-Edition der Werke Annette von Droste-Hülshoffs auf dem Droste-Portal.
Bild ganz oben: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Die todte Lerche". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 107_001.
Bild oben: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift. Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 107_001.
Auf diesem Arbeitsmanuskript notiert Droste ihre Gedichte "Halt fest!", "An Philippa" und rechts unten "Die todte Lerche". Neben dem Titel "An Philippa" (rechts oben auf dem Manuskript) steht die Ortsangabe "Wartensee" und das Datum "May 44". Damit ist auch für die anderen beiden Gedichte auf diesem Manuskript ein ungefähres Entstehungsdatum gegeben.
Auch die verwischten Bleistiftnotizen am oberen Rand des Manuskripts stammen von Droste, es sind Lektürenotizen.
"Dichten" und "Corrigiren"
Auf dem Arbeitsmanuskript von "Die todte Lerche" ist deutlich zu sehen, wie intensiv Annette von Droste-Hülshoff an ihren Texten gearbeitet hat.
Bild unten: Annette von Droste-Hülshoff: Handschrift von "Die todte Lerche" (Arbeitsmanuskript). Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 107_001.
An einigen Stellen notiert Droste mehrere mögliche Versionen eines Verses nebeneinander.
Bild unten: Vers 7 und 8 auf dem Arbeitsmanuskript von "Die todte Lerche". Westfälisches Literaturarchiv im LWL-Archivamt (Depositum), Meersburger Nachlass, Bestand 1064/MA I 107_001.
So schreibt sie in Vers 7 zunächst wie in der später gedruckten Version: "Dein Lied war wie ein Blüthenregen". Sie fügt noch eine andere Möglichkeit hinzu: "Frühlings", streicht das aber durch und schreibt "Morgenregen". Doch dann streicht sie auch "Morgenregen" wieder durch, und es bleibt bei der ersten Version: "Dein Lied war wie ein Blüthenregen, / Dein Flügelschlag wie ein Gedicht." Für die Interpretation dieser Passage ist es von Bedeutung, dass der Blütenregen, mit dem das Ich den Lerchengesang vergleicht, auch ein Frühlings- oder Morgenregen hätte sein können – es aber nicht wurde.
Zwar bringt Droste eine erste Fassung ihrer Texte meist in vergleichsweise fertiger Form, oft mit ausgefeilter Struktur, aufs Papier. Offensichtlich formuliert sie ihre Texte in Gedanken bereits vor. Bodo Plachta nennt Droste deshalb in seiner berühmten Einführung in die Editionswissenschaft, mit der Generationen von Studierenden das Handwerk gelernt haben, als Paradefall für eine "Kopfarbeiter[in]", im Gegensatz zu "Papierarbeitern", deren Texte erst auf dem Papier allmählich Form annehmen (Plachta 1997).
Doch Droste lässt es nicht bei der ersten Fassung eines Gedichts bewenden. An vielen Texten arbeitet sie immer weiter, stellt um, schreibt neu, ändert Wörter oder ganze Verse. Dieser Prozess des "Corrigirens", wie Droste ihn nennt, ist potentiell unabschließbar. Einen Abschluss findet er oft nur aus äußeren Gründen – zum Beispiel, weil sie ein Gedicht für den Druck abgeben muss (vgl. Liebrand u. Wortmann 2015).
Publikation in Cottas Morgenblatt
Ein Publikationserfolg
"Die todte Lerche" erschien im August 1844 in der angesehenen Zeitschrift Morgenblatt für gebildete Leser im Cotta Verlag, die deutschlandweit und auch weit über die Grenzen Deutschlands hinaus gelesen wurde. Drostes Freund Levin Schücking, der in der Literaturwelt äußerst gut vernetzt war, hatte diese Publikation in die Wege geleitet.
Die Herausgeber des Morgenblatts stellen dem Gedicht eine Strophe aus Percy Bysshe Shelleys Gedicht "To a Skylark" ("An eine Feldlerche") voran. Damit verweisen sie auf die lange Tradition an "Lerchen"-Gedichten, in der Drostes Gedicht steht.
Bild links: Drostes Gedicht in Cottas Morgenblatt für gebildete Leser. Nr. 207. 28.08.1844.
Höhenflug und Abgrund
(Lerchen)gesang in der Moderne
Die Lerche, die in luftigen Höhen singt, und die Mücke, die der Sonne entgegenfliegt, sind in der abendländischen Kulturgeschichte seit Jahrhunderten Zeichen für den Dichter und seine Erhebung zum Göttlichen.
Der Sonne schwirrtest du entgegen,
Wie eine Mücke nach dem Licht, (V. 5–6)
Die letzten beiden Verse der ersten Strophe vergleichen den Flug und das Lied der Lerche ausdrücklich mit Poesie (und deren Sinnbildern, den Blüten) und weisen dadurch deutlich darauf hin, dass dieses Gedicht auch poetologisch zu lesen ist – dass es also die Möglichkeiten und Bedingungen von Dichtung verhandelt:
Dein Lied war wie ein Blüthenregen,
Dein Flügelschlag wie ein Gedicht. (V. 7–8)
In der zweiten Strophe versetzt das Ich sich selbst in die fliegende und singende Lerche hinein. Das menschliche Ich des Gedichts identifiziert sich mit dem Tier:
Ich selber taumelte wie trunken,
Wie eine Mücke nach dem Licht! (V. 15–16)
Die Frage steht im Raum: Wo verlaufen eigentlich die Grenzen zwischen Kultur und Natur, zwischen geistdurchwirkter menschlicher Dichtung und Vogelgezwitscher?
Plötzlich fällt die Lerche, mit der das Ich des Gedichts sich so empathisch identifiziert, tot zu Boden:
Da plötzlich sank und sank es nieder,
Gleich todter Kohle in die Saat; (V. 17–18)
Als "armer, kalter Rest“ (V. 22) bleibt die Lerche liegen, die eben noch zur Sonne geflogen ist: Dies ist eine krasse Absage an die überlieferte Symbolik der Erhebung zum Göttlichen. Mit dem "Befund von bloßer Materialität, von Überbleibseln, von 'Resten'" geht, wie Claudia Liebrand erklärt, auch jede Hoffnung des Ich auf die eigene Unsterblichkeit verloren: Der Sturz der Lerche ist zugleich ein Sturz des Ich in den Abgrund der Moderne und ihrer Glaubenskrisen. Der Gegensatz zwischen der kulturhistorischen Bedeutung der Lerche als Symbol der Erhebung zum Göttlichen und ihrem Absturz in die entgötterte Materialität ist derart spannungsvoll, dass die Forschung Drostes Gedicht mit Charles Baudelaires radikaler Gedichtsammlung Die Blumen des Bösen (1857) vergleicht (Liebrand 2008; Detering 2009).
"Die todte Lerche" macht deutlich, warum Drostes "Poetik der Natur", wie Roland Borgards sie nennt, so modern ist: Droste verknüpft überlieferte Sinnbilder, das subjektive Erleben eines Ich und die "konkrete Materialität" der Tiere (und auch der Pflanzen), die als reale Lebewesen dargestellten werden, zu spannungsgeladenen modernen Schreibweisen (Borgards 2018; vgl. auch Detering 2020).
Es bleibt die Frage: Wird das Lied weiterklingen, wenn der Körper der Dichterin zum bloßen Rest geworden ist? Wenn schon die Gewissheit des ewigen Lebens zunichte geworden ist: bleibt dann wenigstens die Hoffnung auf die Ewigkeit der Kunst?
Literatur
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Werke. Briefwechsel. Hg. von Winfried Woesler. Bd. I–XIV (28 Teilbände) (= HKA). Tübingen 1978–2000.
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 1: Gedichte zu Lebzeiten. Text. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA I, 1). Tübingen 1985.
Droste-Hülshoff, Annette von: Historisch-kritische Ausgabe. Bd. I, 3: Gedichte zu Lebzeiten. Dokumentation. Zweiter Teil. Bearbeitet von Winfried Theiss (= HKA II, 2). Tübingen 1999.
Borgards, Roland: "Natur". In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin u. Boston 2018, S. 649–658.
Detering, Heinrich: "Versteinter Äther, Aschenmeer. Metaphysische Landschaften in der Lyrik der Annette von Droste-Hülshoff". In: Raum. Ort. Topographien der Annette von Droste-Hülshoff. Hg. von Jochen Grywatsch. Hannover 2009 (= Droste-Jahrbuch 7), S. 41–67.
Detering, Heinrich: Holzfrevel und Heilsverlust. Die ökologische Dichtung der Annette von Droste-Hülshoff. Göttingen 2020.
Doebele-Flügel, Verena: Die Lerche. Motivgeschichtliche Untersuchung zur deutschen Literatur, insbesondere zur deutschen Lyrik. Berlin u. Boston 2018 (1977).
Liebrand, Claudia u. Thomas Wortmann: "Drostes Kryptographien: Editionsprobleme des Geistlichen Jahres". In: Scholarly Editing and German Literature: Revision, Revaluation, Edition. Hg. von Lydia Jones, Bodo Plachta, Gaby Pailer u. Catherine Karen Roy. Amsterdam 2015, S. 145–166.
Liebrand, Claudia: Kreative Refakturen. Annette von Droste-Hülshoffs Texte. Freiburg i. Br., Berlin u. Wien 2008.
NABU: "Feldlerche. Alauda arvensis". Auf: nabu.de https://www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/voegel/portraets/feldlerche/ (24.10.2021)
Plachta, Bodo: Editionswissenschaft. EIne Einführung in Methode und Praxis der Edition neuerer Texte. Stuttgart 1997.
Schulze-Hagen, Karl, Gabriele Kaiser, Oskar Heinroth u. Magdalena Heinroth: Die Vogel-WG. Die Heinroths, ihre 1000 Vögel und die Anfänge der Verhaltensforschung. München 2000.
Wernli, Martina: "Die todte Lerche". In: Annette von Droste-Hülshoff. Handbuch. Hg. von Cornelia Blasberg und Jochen Grywatsch. Berlin u. Boston 2018, S. 418–421.